1.1 Eine Utopie im Schatten des Kolonialismus

Von Timo Holthoff

Mit der Versklavung, Missionierung und Kolonialisierung großer Teile der Erde durch europäische Staaten blicken wir auf eine Geschichte der Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung ganzer Gesellschaften zurück. Europa, auch Deutschland, verfolgte dabei in erster Linie machtpolitische und wirtschaftliche Interessen. Flankiert wurden diese mit dem Versuch, die Beherrschung der Welt durch den rassistischen Mythos weißer Überlegenheit moralisch zu legitimieren. Die Gesellschaftsformen, der Glauben, die Wirtschaftsweise und das Wissen der Kolonialisierten wurden dieser Ideologie folgend abgewertet und systematisch zerstört – bis hin zur Aberkennung ihres Menschseins. Das europäische Welt- und Menschenbild wurde gewaltvoll übergestülpt. All dies ist noch nicht lange her: Das Zeitalter des Kolonialismus hat erst vor ca. 50 Jahren geendet.

In Berlin/Deutschland erinnern noch immer Straßennamen an ehemalige Kolonialherren.
Diese sollen nach Meinung von Aktivist*innen z. B. durch Namen von Freiheitskämpfer*innen ersetzt werden.

 

 

 

 

 

Globaler Süden und Globaler Norden sind keine (rein) geografischen Begriffe, sondern politische Begriffe. Zum Globalen Norden werden Länder und Menschen gerechnet, die im historisch gewachsenen System globaler Ungleichheit strukturell privilegiert und mächtig sind. Zum Globalen Süden zählen Länder und Menschen, die in diesem System strukturell diskriminiert und marginalisiert sind. So gehört z. B. Australien als Staat und Volkswirtschaft zum Globalen Norden, australische Ureinwohner jedoch zum Globalen Süden. Die Begriffe sind eine Hilfskonstruktion, um strukturelle Unterschiede benennen zu können, ohne den Begriff „Entwicklungsländer“ zu benutzen, der eine abwertende Konnotation hat und globale Ungleichheit entpolitisiert.

Koloniales Erbe: Globale Ungleichheit ist kein Zufall

Die Folgen dieser Geschichte sind auf vielen Ebenen spürbar. Im großen Maßstab basiert die globale Ungleichheit der Gegenwart auf dem in der Kolonialzeit angelegten Ausbeutungssystem, insbesondere der globalen Arbeitsteilung, bei der Ressourcen im Globalen Süden kostengünstig gewonnen und mit großem Gewinn im Norden weiterverarbeitet werden. Die Geschichte des Kolonialismus liegt damit keineswegs in der Vergangenheit: Durch ungerechte Wirtschafts- und Handelsstrukturen entwickelt Europa bis heute seinen Wohlstand auf Kosten von Ländern und Menschen in anderen Teilen der Welt. Damit sind wir alle, Menschen im Globalen Norden und im Globalen Süden, als Einzelpersonen eng verstrickt: zum Beispiel durch niedrige Preise für Güter – wie Schokolade oder Kleidung – im Globalen Norden und geringe Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und ökologische Folgen im Globalen Süden. Sogenannte Entwicklungshilfe gleicht dieses Ungleichgewicht bei Weitem nicht aus. Im Gegenteil, oft wird die Zusage staatlicher „Entwicklungsgelder“ an wirtschaftspolitische Bedingungen geknüpft, wie die Öffnung der Märkte für europäische Erzeugnisse, die die Schieflagen und Abhängigkeiten verfestigen. Ungleichheit ist somit kein Schicksal und kein Zufall, sondern ein Ergebnis historisch gewachsener Machtverhältnisse. Armut steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Reichtum.

Kulturelle Spuren des Kolonialismus auf beiden Seiten

Aber auch jenseits weltwirtschaftlicher Strukturen hat derKolonialismus schmerzliche Folgen. Ehemals kolonialisierte Gesellschaften sind bis heute mit der Heilung des historischen Traumas beschäftigt. Ihre Staatsgrenzen, ihr politisches System, ihr Bildungswesen, ihre Amtssprache sind in vieler Hinsicht europäisch geprägt und schreiben Probleme der Fremdherrschaft fort. Viele Gesellschaftsbereiche wurden nie dekolonisiert – oder werden durch die wirtschaftliche und kulturelle Übermacht des Nordens, z. B. im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, fortschreitend kolonialisiert. In einigen Staaten (besonders in Lateinamerika) haben nach wie vor Nachfahren europäischer Siedler die wirtschaftliche und politische Vormacht, während indigene Bevölkerungen bis heute keine Unabhängigkeit und Freiheit erlangt haben.

Doch auch in Europa hat der Kolonialismus kulturelle Spuren hinterlassen: Der kritisch als Eurozentrismus bezeichnete Glaube an die Überlegenheit oder Alternativlosigkeit des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells bestimmt bis heute, zumindest unbewusst, das Denken der meisten Menschen in Europa. Damit ist meist die Einstellung verbunden, dass alternative Formen im Globalen Süden rückständig und fehlerhaft sind. Auch wenn der Kolonialismus weitestgehend als historisches Verbrechen anerkannt ist, so besteht weiterhin die Idee, der Süden müsse sich nach Vorbild des Nordens „entwickeln“ – wofür er die „Hilfe“ wohlmeinender Europäer*innen benötige. Ob gut gemeint oder nicht: Dieser überlegene und helfende Blick auf Welt und die damit verbundenen Selbst- und Fremdbilder stehen in der Tradition des auf Rassismus fußenden Kolonialismus: einer notwendigen „Zivilisierung der Rückständigen“, entlang des europäischen Entwicklungspfads. Diese Denkmuster, Stereotype und Vorurteile durchziehen politische Diskussionen und Medienberichte über arme Länder oder Geflüchtete, Spendenwerbung von Hilfsorganisationen und selbst Teile von Wissenschaft. Sie finden sich auch, oft subtil, im Bildungsalltag – z. B. in Kinderliedern, Karnevalskostümen, Schulbüchern oder in Schul-Hilfsprojekten.

Diese Muster werden gleichermaßen erlernt und reproduziert, und zwar weitgehend unabhängig vom Bildungshintergrund und der politischen Überzeugung. Eine weltoffene Grundhaltung, wie sie wohl allen globalen Bildungspartnerschaften zugrunde liegt, immunisiert daher nicht gegen kolonialrassistische Haltungen und Verhaltensweisen. Diese sind – so schwer akzeptabel es scheinen mag – Teil eines wenig aufgearbeiteten kulturellen Vermächtnisses aus 500 Jahren Geschichte. Auch Europa muss sich dekolonisieren – im Kopf, im Herzen und in seiner gelebten Rolle in der Welt. Die Notwendigkeit solch eines Lernprozesses ist keine Frage individueller Schuld, sondern kollektiver Verantwortung.

All dies ist jedoch kein Plädoyer gegen, sondern für Bildungspartnerschaften – mit ihrem Potenzial Menschen und Welt positiv zu verändern! Vielmehr stellen sich Fragen an das Zustandekommen, die Ziele, die Inhalte und die Qualität: Wie kann gemeinschaftlich mit den genannten Herausforderungen umgegangen werden – um der Vision einer gleichberechtigten Zusammenarbeit für eine gerechte Welt näherzukommen? Wie entfalten Bildungspartnerschaften ihr volles Lernpotenzial für alle Beteiligten?

Timo Holthoff
Trainer und Moderator für Transformative und Dekoloniale Bildung, Deutschland

Bildung im kolonialen Spannungsfeld

Bildungsprojekte und -partnerschaften zwischen Ländern des Globalen Südens und Nordens bewegen sich in diesem Spannungsfeld, denn die historisch gewachsene Ungleichheit manifestiert sich auch dort strukturell. Leicht spürbar wird das z. B., wenn europäische Teilnehmende ohne Probleme in Partnerländer reisen können, die Visa zur Einreise nach Deutschland aber extrem schwierig zu bekommen sind. Meist kommen die finanziellen Ressourcen für Partnerschaftsarbeit größtenteils aus dem Globalen Norden. Partner*innen in Europa (bzw. auch ihre Förder*innen) setzen damit oft einseitig den Rahmen für die Bildungspartnerschaft und nehmen damit eine dominante Rolle ein. Insbesondere wenn noch Spendentätigkeiten für Projekte im Süden hinzukommen, entstehen schnell Rollen von Gebenden und Nehmenden, bilden sich Abhängigkeiten und reproduzieren sich stereotype Beziehungen und Bilder. Eine Kultur des ehrlichen Feedbacks und des gleichberechtigten Voneinander-Lernens hat somit eine schwierige Ausgangslage.

Wie kann Bildung im Rahmen internationaler Bildungspartnerschaften dekolonisiert werden?

Bildung zu dekolonisieren bedeutet, dass ein Land hinsichtlich des Erwerbs von Wissen, Fähigkeiten, Werten, Überzeugungen und Gewohnheiten unabhängig werden muss. Dekolonisierung von Bildung im Rahmen internationaler Bildungspartnerschaften bedeutet, mit Unterstützung der jeweiligen Partner*innen das koloniale Bildungssystem zu einem eigenen unabhängigen Lehrplan zu verändern.
Dabei sollte Wert auf RESPEKT und AKZEPTANZ für Unterschiede und Diversität gelegt werden. Es ist nicht zwingend, gemeinsame Ziele überall auf der Welt auf dieselbe Art und Weise zu erreichen. Eine der Hauptaufgaben internationaler Bildungspartnerschaften sollte daher darin bestehen, sich mit Partner*innen zusammenzutun und sie bei der Definition ihrer eigenen Lehrpläne zu unterstützen.

Die Einführung eigener, dekolonisierter Lehrpläne braucht Ressourcen. Die Bereitstellung dieser Ressourcen sollte aber nicht mit Geund Verboten verknüpft werden – denn dies würde lediglich eine neue Form kolonialer Dominanz darstellen. Sobald die entsprechenden Lehrpläne entwickelt worden sind, sollten alle Partner*innen sie wertschätzend testen und ausprobieren. Auf diese Weise können negative Annahmen und Vorurteile überwunden werden, z. B.dass Lern- und Bildungsformate, die nicht den einst durch das Kolonialsystem eingeführten entsprechen, barbarisch und primitiv seien. So könnte man die internationale Gemeinschaft dazu bringen anzuerkennen, wie einzigartig und gleichzeitig gleichwertig die Lehr- und Lernansätze jeder Gemeinschaft auf diesem Globus sind.

Geofrey Nsubuga, nationaler Koordinator von Somero Uganda